Von rätselhaften Rötelkritzeleien

Von rätselhaften Rötelkritzeleien


Von rätselhaften Rötelkritzeleien

 

Philatelie ist eine untadelige Wissenschaft. Da ist fast alles exakt geordnet und in hunderten Fachbüchern und Katalogen dokumentiert und veröffentlicht. Nur die ältesten Briefe fallen immer wieder aus dem Rahmen: Das ist die so genannte Vorphilatelie, die aus uralten Briefen besteht, deren schwer lesbare Adressen, die häufig von geheimnisvollem Zahlengekritzel, Strichen und rätselhaften Zeichen überlagert werden.

Aber die Freunde solcher Briefe, die Vorphilatelisten, können erstaunlich viel von solchem Gekritzel lesen oder deuten. Aber wie in der übrigen Welt ist dafür gesorgt, dass auch unter den Vorphilatelisten die Bäume nicht in den Himmel wachsen, sodass es immer noch Gekritzel auf alten Briefen gibt, über die es kein Quellenmaterial und keine Veröffentlichungen und somit kein gesichertes Wissen gibt. Und es gibt altehrwürdige Experten, die über solche geheimnisvolle Briefe hin und her kopfen, bis sie erfolglos die Achsel zucken und aufgeben.

Allerdings gibt es daneben auch solche, die von einem bestimmten Gekritzel nicht loslassen können, bis sie eine Idee haben, die ihnen die geheimnisvolle Bedeutung ihres liebsten Gekritzels eingibt.

                                 

offenbar eine klare Urform in charakteristischem Rötel 1835

 

 

mutierte Spätform in späterer Tinte 1845

 

Die beiden Kritzeleien sind von jener Art, vor der die einen ratlos aufgeben und die anderen so lange herumphantasieren, bis sie eine persönliche Interpretation entdeckt haben.

Die Rötelform sowie die stilisierte Tintenform lassen jedenfalls bei gutem Willen ein P erkennen. Aber wer sich damit zufriedengibt, steht dann unweigerlich vor der Frage, von welcher Bedeutung   dieses P abgeleitet sein könnte.  Stammt der Anfangsbuchstabe von Portofreiheit oder von Pauschalierung? „Portofreiheit“ ergäbe einen Sinn, weil das P nur auf der Vorderseite der Briefe zu finden ist und daher die Portofreiheit für den Empfänger verlässlich signalisieren könnte. Aber auch „pauschale Verrechnung“ würde einleuchten, wenn es für Journalisierung stünde. Aber auch ein Brief mit einem vorbildlichen Rötel-P kann darauf keine eindeutige Antwort geben.

 

 

Gebührenfreier Gerichtsbrief des Landrechtes Wien vom 25. 6. 1838 an den Magistrat der landesfürstlichen Städte Krems und Stein, der vom aufgebenden Gericht mit Gewichtangabe und Empfangsort in das Absenderjournal eingetragen und mit dem Amtsstempel Francotutto versehen wurde. Dieses Journal wurde bei der Aufgabe vom Postamt überprüft und bestätigt, worauf der Brief auch im amtlichen Journal eingetragen wurde. Daraufhin fertigte das Postamt den Brief mit dem OT-Stempel ab, kennzeichnete ihn noch durch das Rötel-P als (scheinbar) gebührenfreien Ex-offo-Brief und schrieb nach der Gewichtsprüfung mit Rötel auch noch 1 Lth an.

 

Es besteht hier nicht die Möglichkeit, um auf einer Reihe von Briefen die Mutationen des P im Laufe der Zeit, über die Kronländer hinweg, zu zeigen. Nur einen Brief mit einem Frankierungschaos, in dem auch ein entartetes P eine Rolle spielt, soll die LeserInnen einladen, ein Taxierungswirrwarr zu entwirren:

 

 

 

Persönlicher Versuch einer Klärung:

Die Bestandteile des Taxierungswirrwarrs auf diesem Brief vom 6. 8. 1828 von Treviso nach Wien sind:

Absender, Adresse: Magistrat Wien, Frankokreuz, Gerichtstempel des Provinzgerichtes Treviso (kaum leserlich), Rötel +, Rötelbezeichnung als Judicialsache, Rötel P, Rotstempel von Treviso, Taxe 42x, Tinten- 1 L, Tinten- 2 (unterstrichen).

Im Gericht, wo außer der Adresse nur mit spitzer Feder links oben noch ein Ex-offo-Vermerk und links unten die Bemerkung L 1 (= 1 Lot?) und rechts oben mit 2 (= Gewichtstufe) sowie der Amtsstempel des Gerichtes ergänzt wurden.

Da diese Angaben auch zum Ausfüllen des Journals benötigt wurden, liegt die Annahme nahe, dass dieser Brief bereits im Gerichtsgebäude zur gebührenfreien Aufgabe ins Absenderjournal eingetragen wurde.

Dessen ungeachtet könnte im Postamt ein Chaos in Rot mit der voreiligen Taxierung von 42x für einen dreifachen Portobrief begonnen haben, weil er ja ohne Barzahlung aufgegeben werden sollte.

Da der Brief aber auch für den Empfänger gebührenfrei bleiben sollte, wurde die Aufgabe mittels Journalisierung in Angriff genommen und zuerst die Taxe von 42x mit dem Frankokreuz als ungültig erklärt.

Dann musste der Brief als offizieller Judizialgegenstand deklariert und in das amtliche Journal für das Gericht eingetragen werden.

Daher wurde er auch noch mit einem schlampigen P gekennzeichnet. Schlussendlich wurde er noch mit dem roten TREVISO gestempelt, damit sofort ersichtlich war, dass der Empfänger kein Porto bezahlen musste.

Die Bestellgebühr für den Wiener Briefträger, die durch das X vorgemerkt wurde, blieb dem Empfänger allerdings nicht erspart.

Es könnte aber auch fast ganz anders gewesen sein!

 

Hubert Jungwirth



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